- Futurismus in der Literatur: »Tod dem Mondenschein!«
- Futurismus in der Literatur: »Tod dem Mondenschein!«Literatur des 20. Jahrhunderts heißt fast durchgängig Wille zum Traditionsbruch, Herbeiführung völlig neuer künstlerischer Formen und Bewältigung der Themen der Moderne. Dieser Wille zur radikalen Veränderung entstand aus dem Weltgefühl, das Friedrich Nietzsche in seiner Betrachtung »Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben« artikulierte: Das Vergangene müsse vergessen werden, wenn es nicht zum Totengräber des Gegenwärtigen werden solle. Wie Einsteins Relativitätstheorie die Naturwissenschaften veränderte, revolutionierte der Futurismus als erste Avantgardebewegung in der Literatur die Ästhetik.Die italienischen Futuristen veröffentlichten ihr bahnbrechendes »Manifest des Futurismus« am 20. Februar 1909 in der Pariser Tageszeitung »Le Figaro«. Ihr Haupttheoretiker, Filippo Tommaso Marinetti, wollte mit diesem sorgfältig inszenierten Gründungsakt die internationale Aufmerksamkeit auf das futuristische Programm lenken. Der Futurismus lehnte die politische und künstlerische Vergangenheit radikal ab; er verstand sich als künstlerische, soziale und politische Neuerungsbewegung, die den Wertvorstellungen und Kunstauffassungen des 19. Jahrhunderts ein Ende bereiten wollte.Durch geistreiche Provokation des Publikums und durch systematische Programme, die sie Manifeste nannten, wollten die Futuristen ein neues Weltbild schaffen. Die bisher gültigen Regeln der Kunst und der Gesellschaft sollten zerstört werden und einer neuen Zukunft im Zeichen der Industrialisierung und des technischen Fortschritts Platz machen. Die Futuristen schufen einen Kult der Dynamik und Geschwindigkeit, in dem die Verherrlichung aller technischen Errungenschaften der modernen Zeit wie der Lokomotive, des Automobils und des Flugzeugs eine zentrale Rolle spielten. Dagegen galten die Begriffswelten des Symbolismus als dekadent, der Mondenschein als Inbegriff einer verlogenen literarischen Idylle. Dass Marinetti die Schönheit eines Automobils mit der Nike von Samothrake, einer gewaltigen hellenistischen Figur, verglich und den Krieg als »einzige Hygiene der Welt« verherrlichte, brachte den Futuristen das Unverständnis der bürgerlichen Literaten und Kritiker ein.Die politische Orientierung der Futuristen war zunächst sozialistisch-anarchistisch, in der allgemeinen Kriegsbegeisterung unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg mündete sie jedoch in überzeugten Militarismus und Nationalismus. Nicht wenige von ihnen meldeten sich daher freiwillig zum Kriegsdienst; einige der größten Talente, wie der Maler und Bildhauer Umberto Boccioni oder der Architekt Antonio Sant'Elia, bezahlten ihren Eifer mit ihrem Leben.Die jungen Künstler waren fasziniert von der Provokation des selbstzufriedenen Bürgertums, von der Macht der Masse, von Anarchie und Revolte und benutzten Zeitungen und Flugblätter zur Verbreitung ihrer Thesen. Seit 1910 organisierte Marinetti spektakuläre Rezitationsabende, die »Serate futuriste«. Hier wurden neue Manifeste verkündet und lautmalerische Gedichte vorgetragen. Bei diesen Veranstaltungen kam es regelmäßig zu - teils beabsichtigten - handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen Publikum und Futuristen auf der Bühne. Es wurden Tomaten und faule Eier geworfen, die Stühle wurden mit Kleister bestrichen, und es entstanden nicht selten Raufereien, die am Tag darauf als Sensationsmeldungen in der Zeitung der Bewegung die erhoffte Publicity verschafften.Literarisches Zentrum der futuristischen Bewegung war in den ersten Jahren vor allem Mailand, wo sich der Sitz der Literaturzeitschrift »Poesia« befand, die Marinetti als Sprachrohr für die Verbreitung seiner Ideen diente. Während der Kriegsjahre formierte sich daneben in Florenz eine sehr aktive Gruppe um die Zeitschrift »L'Italia futurista«, die sich hauptsächlich mit gesellschaftspolitischen Themen und esoterischen Aspekten der Avantgarde befasste. Nach dem Krieg wurde Rom, wo in den Zwanzigerjahren Aufsehen erregende Theaterexperimente stattfanden, zur Hauptstadt der Bewegung.In der enthusiastischen Stimmung der ersten Jahre gelang es Marinetti, zahlreiche Gefolgsleute um sich zu versammeln. Dichter wie Aldo Palazzeschi, Paolo Buzzi und Corrado Govoni, Maler und Bildhauer wie Umberto Boccioni, Giacomo Balla und Carlo Carrà sowie Komponisten wie Luigi Russolo experimentierten mit futuristischen Techniken. Ursprünglich dem Futurismus skeptisch gegenüberstehende Literaten wie Giovanni Papini, Ardengo Soffici und Gian Pietro Lucini begeisterten sich zeitweise für die innovativen futuristischen Ideen. 1912 erschien die erste Anthologie mit dem Titel »I poeti futuristi«.Die futuristischen Manifeste fanden innerhalb kürzester Zeit in ganz Europa Verbreitung: Im »Technischen Manifest der futuristischen Literatur« (1912) und dem Manifest »Zerstörung der Syntax. Drahtlose Fantasie. Befreite Worte« (1913) wendeten die Verfasser die ästhetischen Prinzipien von Dynamismus und Simultaneität auf die Literatur an. Futuristische Erfindungen wie die »Parole in libertà« (»Befreite Worte«) und das synthetische Drama, extrem reduzierte, oft nur minutenlange Bühnenstücke, verwirklichten diese programmatischen Ansätze. Das Manifest »Das Varietee« (1913) und das Manifest des futuristischen synthetischen Theaters (1915) haben für die heutige Dramaturgie und Poetik des Theaters noch Modellcharakter.In einer späten Phase der futuristischen Dichtkunst entstand in den Dreißigerjahren die »Flugdichtung«. Moderne künstlerische Mittel sollten die Faszination des Fliegens, die Rotationsgeräusche des Propellers und den Gleichklang des Motors mit dem Herzen des Piloten zum Ausdruck bringen. In dieser Technik sah Marinetti, der sich seit dem Ersten Weltkrieg der faschistischen Partei Mussolinis angenähert hatte, den letzten Schritt in seinem Bemühen, die »futuristische Rekonstruktion des Universums« - so der Titel eines berühmten Manifests von Giacomo Balla und Fortunato Depero - zu verwirklichen.In Russland wurde der Futurismus um 1910 zur wichtigsten Bewegung der künstlerischen Moderne. Futuristische Konzepte bestimmten bis Ende der Zwanzigerjahre Literatur, Musik, Malerei, Grafik, Theater, Film, Plakatkunst, Buchdruck, prägten den Konstruktivismus sowie die literarische Gruppe »Oberiu« und standen in enger Wechselbeziehung zur Formalen Schule in der Literaturwissenschaft. Eine einheitliche futuristische Strömung gab es in Russland jedoch nie. Ein gemeinsamer Nenner aller Gruppen bestand darin, dass sie Literatur als eine autonome Kunst betrachteten, in der das Wort für sich selbst, ohne Bezug auf die Wirklichkeit, existieren kann. Dichtung galt als experimentelle Erprobung des Wortes bei der Wiedergabe des Lebensgefühls einer Künstlergeneration, für die mit der Umbruchsituation vor dem Ersten Weltkrieg eine neue Epoche begann.Die größte, künstlerisch innovativste Gruppe bildeten die Moskauer Futuristen. 1910 traten Dichter und Maler wie David Burliuk, Welemir Chlebnikow, Wassilij Kamenskij, Jelena Guro, Natalija Gontscharowa und Michail Larionow mit dem Almanach »Richterfalle« an die Öffentlichkeit. Ihre Beiträge schockierten Leser und Kritiker. 1911 schlossen sich Wladimir Majakowskij und Aleksej Krutschonych der Gruppe an, die sich (nach dem griechischen Wort für das Skythenreich) »Hyläa« nannte und — als Reverenz an den Kubismus — als Kubo-Futuristen bezeichnete. 1912 kam unter Beteiligung von Wassily Kandinsky der Band »Eine Ohrfeige dem allgemeinen Geschmack« mit dem gleichnamigen Manifest heraus. Ähnlich wie Marinetti distanzierten sich die Kubo-Futuristen radikal von der Kunst der Vergangenheit. Sie forderten dazu auf, Klassiker, Symbolisten und Realisten über Bord zu werfen, lehnten deren Sprache ab und verlangten die Rückbesinnung auf das »sich selbst genügende« Wort. Begriffe wie »gesunder Menschenverstand« und »guter Geschmack« wurden für ungültig erklärt. In einem zweiten Manifest wurden die orthographischen, grammatischen und syntaktischen Regeln verworfen und die Dominanz der lautlichen und grafischen Seite des Wortes betont. Nicht wenige Losungen der Kubo-Futuristen stammten aus dem Vokabular Marinettis, der sich 1914 in Moskau und Petersburg aufhielt. Die russischen Künstler bestritten indes jede Beziehung zum italienischen Futurismus.Die wichtigsten poetologischen Texte des Kubo-Futurismus schufen Chlebnikow, Burliuk, Krutschonych und Majakowskij. Chlebnikow griff auf Mathematik, Geschichte, Religion und Mythologie zurück, arbeitete an einem universalen Kommunikationssystem und kreierte gemeinsam mit Krutschonych die »sinnüberschreitende Sprache« (»zaum'«). Sein Stück »Der Fehler des Todes« (1915) wies die typischen Merkmale des futuristischen Theaters auf: Primitivismus, Improvisation, Spontaneität, Fragmentarisches, Alogisches, Absurdes, Zynismus und Obszönität. Burliuk zeigte 1912 auf der Ausstellung der Gruppe »Karo-Bube« seine Bilder, gehörte der Münchener Gruppe »Der Blaue Reiter« an und stellte in dem Artikel »Die »Wilden« Russlands« die futuristischen Prinzipien in der bildenden Kunst dar.In Petersburg fand der Ego-Futurismus Verbreitung. 1911 kündigte Igor Sewerjanin mit dem Gedicht »Prolog des Ego-Futurismus« die Geburtsstunde einer Poesie an, die ihren Gegenstand im Ich (»ego«) finden sollte. Sein Manifest forderte, die subjektive Weltsicht als Wahrheit zu akzeptieren. Sewerjanin, der Impulse von Marinetti aufnahm, hatte mit Gedichtbänden wie »Ananas in Champagner« (1915) großen Erfolg.Nach 1917 forderten die Kubo-Futuristen dazu auf, die Kunst in den Dienst der Revolution zu stellen, sie aus den Museen zu holen und auf Straßen und Plätze hinauszutragen. Majakowskij hatte schon 1914 die futuristische Formel von dem sich selbst genügenden Wort als »ein Erfordernis des Lebens« interpretiert. In dem »Brief über den Futurismus« (1922) erklärte er, die Futuristen müssten die Wortkunst als eine politische Aufgabe begreifen, Agitation betreiben und Appell oder Reklamevers dem lyrischen Gedicht vorziehen. Später schrieb er, Dichten sei jeglicher Arbeit vergleichbar. Als »Meister« habe der Autor einen »sozialen Auftrag« zu erfüllen. Vorbedingung für den Beginn der Arbeit des Dichters sei eine gesellschaftliche Aufgabe, deren Lösung literarische Mittel erfordere. Begriffe wie »Operativität«, »Lebensbau«, »Produktionskunst« - der Künstler als »Ingenieur«, sein Produkt als Anleitung zum praktischen Handeln - spielten jetzt für ihn eine entscheidende Rolle. Auf Initiative Majakowskijs formierten sich 1922 die Moskauer Futuristen in der »Linken Front der Künste« (LEF). Die Zeitschrift »LEF« (1923-25) wurde zu einer Plattform für zahlreiche Avantgardekünstler und die Formale Schule in der Literaturwissenschaft, deren bedeutendste Vertreter Wiktor Schklowskij und Jurij Tynjanow waren. Ein Hauptziel von »LEF« bestand darin, mit einer pragmatisch auf den Lebens- und Arbeitsalltag ausgerichteten Kunst einen Beitrag zum Aufbau der Sowjetunion zu leisten. Die Zeitschrift »Nowyj LEF« (1927/28), von Majakowskij und Sergej Tretjakow redigiert, suchte in der von Losungen der »Russischen Assoziation Proletarischer Schriftsteller« (RAPP) dominierten Kulturszene mit der Forderung nach einer »Ingenieurs- und Organisationskunst« eigene Akzente zu setzen. Tretjakow wandte sich gegen die Darstellung des »Privatlebens« in der Kunst und verlangte, psychologisch motivierte literarische Gestalten durch die »Biographie der Dinge« zu ersetzen. Die Zeitung sollte das Epos ablösen; Nikolaj Tschushak regte mit dem Konzept der »Literatur des Fakts« zum Schreiben von »dokumentarischen« Formen - Reportagen, Skizzen, Autobiographien - an. »LEF« geriet jedoch immer mehr in das Kreuzfeuer einer von den Parteijournalisten der »RAPP« gesteuerten Kritik, die im September 1928 zur Auflösung von »LEF« führte. Die futuristische Avantgarde hatte mit ihrer Forderung nach einer Auftragskunst dem sozialistischen Realismus den Weg gebahnt und sich damit überflüssig gemacht.Prof. Dr. Karlheinz Kasper/Sabine PetersSchmidt-Bergmann, Hansgeorg: ... Futurismus. Geschichte, Ästhetik, Dokumente. Reinbek 1993.
Universal-Lexikon. 2012.